Als ich diesen Ausruf hörte – genau in diesem Moment – da war so einer dieser Wendepunkte. Diese Momente wo einem etwas bewusst wird, oder klar, oder sich verfestigt. Wo man weiß, wo man schlagartig weiß : Es ist tatsächlich so.
„Nicht so dicht!“ Der Ruf schallt laut und fast panisch durch den Baumarkt. Nicht nur der so angesprochenene erstarrt förmlich zur Salzsäule – auch alle anderen, die wir uns in Hörweite befinden, bleiben wie angewurzelt stehen, und verfolgen ungewollt und unweigerlich die klärende Zurechtweisung: „Wir haben Corona! Das dürfte bekannt sein!“
Nun sind die rotgekleideten Mitarbeiter in deutschen Baumärkten durchaus mitunter von robuster Umgangsform und von brüskem Duktus, doch eine solche Ansprache überraschte den so auf Abstand gehaltenen sichtlich über Gebühr, und der ärmste wich ängstlich zurück, einem jungen Priesteranwärter gleich, dem der leibhaftige Satan eine brennende Jesuspuppe entgegenzuschleudern sich anschickte. Dabei wollte der unbedarfte Kunde doch nur Farbe für das Kinderzimmer seiner Tochter….

Wie dem auch sei – ich verfolgte nicht weiter, ob der fromme Mann noch zu seiner Farbe kam, oder ob sich der Linoleumboden des Hellweg Heimwerkermarktes unter ihm öffnete und züngelnde Flammen ihn verschlangen. Jedoch, in jenem Moment war mir schlagartig klar: es ist tatsächlich ernst. Die vielen bunten Klebebänder, die den Weg zu den Kassen in ein unverständliches Labyrinth verwandelten, die derart häufig aufgestellten Hinweisschilder, auf denen der verwirrte und verirrte Kunde angewiesen wurde „zu seinem Schutz, und dem der Mitarbeiter“, mal 1m50, mal 2 Meter, mal gar 3 Meter zu allen anderen Lebewesen zu halten. Sogar um die Infostände herum war noch ein improvisierter „Sicherheitsbereich“ abgesperrt worden, so daß die Gänge jeweils künstlich verengt, und so das Abstand halten in diesen Schikanen erheblich erschwert war.

Es ist die Maxime des Jahres 2020 in Deutschland. Das Leitmotiv. Die alles durchdringende Regel. Abstand halten. Um jeden Preis. Um der todbringenden Fracht des Gegenüber nicht ausgesetzt zu sein. Natürlich unmöglich in Supermärkten, deren auf Ökonomie ausgelegte Inneneinrichtung kaum 1 Meter 50 zwischen zwei Regalen beinhaltet, geschweige denn, daß sich hier zwei Menschen mit eben jenem Abstand begegnen könnten.

„L’enfer, c’est les autres.“
„Die Hölle, das sind die Anderen,“ schrieb Sartre bereits 1943 in seinem Stück „Geschlossene Gesellschaft“.
Und was sind wir heute anderes, wenn nicht eine geschlossene Gesellschaft? Wo wir doch nicht reisen dürfen, ja nur für das „Nötigste“ uns überhaupt fortbewegen? Die Anweisungen der „Obrigkeit“, daß sich jeder nach Kräften von jedem fernhalten solle, und dies sogar bei Strafandrohung, führen das Konzept „Gesellschaft“ ad absurdum. Eine Interessengemeinschaft, die auf Gedeih und Verderb voneinander abhängig ist, soll sich gegenseitig meiden und jeder sich vor jedem fürchten. Es wird unablässig eine vorgebliche „Solidarität“ heraufbeschworen. Im Sinne von: „Seid soldarisch! Aber jeder für sich!“
In Sartres Stück kommen die drei Hauptfiguren bis zum Schluß nicht aus ihrer mißlichen Zwangsgemeinschaft heraus. Schließlich befinden sie sich ja auch in der Hölle. Soweit würde heute wohl noch niemand gehen, doch die Frage bleibt: wie kommen wir aus dieser Geschichte eigentlich wieder heraus?