Es klingt wie eine Trickfrage, die ein hinterlistiger Mathematiklehrer in einem unangekündigten Test seinen Schülern stellen würde:
Ein Typ will von Oktober bis Januar 100 Tage lang hintereinander jeden Tag eine festgelegte Strecke laufen. Wie viele Tage benötigt er dafür?
Finde den Wert für „X“ in folgender Gleichung: 100 (X) = M+R / F x (-H) wobei „X“ die Anzahl der benötigten Tage ist, „M“ das Maß an Motivation, „R“ die Anzahl von Regentagen in einem gegebenen Winter in Deutschland, „-H“ die Anzahl der Tage mit ausgefallener Heizung und „F“ die Temperatur, die ein durch ein Grippevirus verursachtes Fieber erreichen kann. „100“ ist die Konstante.
Wer jetzt antwortet – „Na, es wird 100 Tage dauern, denn unabhängig von Fieber, Regen und versagenden Heizöfen, braucht man für 100 Tage nun einmal genau 100 Tage“ – der hat zwar im Prinzip recht, es aber vermutlich selber noch nie versucht. So ging es mir jedenfalls, als ich im vergangenen Oktober beschloß, jener Typ zu sein, beziehungsweise wie sich noch herausstellen sollte, zu sein zu versuchen beschloß.
Ich musste seither nicht nur meine Antwort revidieren, sondern auch die Gleichung an die neu erkannten Gegebenheiten anpassen – wir Mathematiker dürfen das. Sie lautet nun: (A x 100 (X) = M+R / F x (-H)) / E x K, wobei „A“ für die benötigten Anläufe steht, „E“ für Entschlossenheit und „K“ für Kaihōgyō. Letzteres ist die der ganzen Operation zugrundeliegende buddhistische Meditationspraxis und deshalb nicht nur aus der Gleichung nicht wegzudenken, sondern vielmehr der alles definierende Nenner, ohne den die Rechnung weder aufgehen kann, noch jedwedes Ergebnis sinnvoll, nachvollziehbar oder gar bedeutsam sein könnte.
Also habe ich die Formel mit Kreide an die Schieferfelsen im Steinbruch um die Ecke gemalt und anschliessend alles gut herumgewirbelt – heraus kam, mit absoluter Sicherheit lässt sich die Antwort gar nicht geben, ohne den Faktor „Z“ (= verstrichene Zeit) einzubauen und diesen auf 100 zu setzen, aber die Mindestanzahl Tage, die nötig sind, um 100 Tage hintereinander zu laufen, ist: 161.
Das erklärt sich jetzt zwar nicht von allein, ist jedoch ganz einfach… Das beschreibende Wort „hintereinander“ ist eine unverhandelbare Kondition, eine Bedingung ohne Widerspruch. Es darf keine Unterbrechung geben.
Und da kommt der entscheidende Faktor „F“ in’s Spiel. Als mich mitten in der ganzen Unternehmung ein ausgesprochen agressiver Grippevirus befiel, warf mich das nicht nur ganz allgemein aus der Bahn, es katapultierte mich auch aus dem Rennen für mehrere Tage. Alle Entschlossenheit „E“ konnte nicht die Vernunft „V“ aufwiegen, die besagt: in diesem Zustand bleibt man lieber drin und rührt sich nicht, wenn man nicht den Totalzusammenbruch „TZ“ im Wald riskieren möchte, der ja nicht nur den Abbruch des Projektes bedeuten würde sondern womöglich die absolute Endstation „UdE“…
So war ich nun bereits 61 Tage auf der Strecke, aber eben nicht 100, und durch die Unterbrechung ist alles wieder auf Null gesetzt, denn so lautet nunmal die Regel, die unzweifelhaft sehr standfeste Mönche im fernen Japan vor bereits knapp 1300 Jahren aufstellten. Verständnisvolle Menschen aus meinem näheren Umfeld waren durchaus bereit, mir zuzugestehen, die Unterbrechung als „höhere Gewalt“ einzustufen, und einfach nach meiner Gesundung weiterzumachen, als sei nichts gewesen. Ein großzügiger Vorschlag, durchaus, aber eben keine Option, denn dann würde ich ja nur „ziemlich häufig zu nachtschlafender Zeit loslaufen“. Denn das kommt noch hinzu – Kaihōgyō wird größtenteils nachts praktiziert, und ich starte im Dunkeln und kehre im Morgengrauen aus dem Wald zurück.
Das alles erfordert schon eine recht disziplinierte Lebensführung, und ich muss allerhand anpassen an mein restliches Leben, denn ich bin nunmal kein buddhistischer Mönch, sondern führe noch eine weitgehend „normale“ Existenz neben dem meditativen Experiment. Aber die erste Grundregel bin ich nicht bereit, abzuwandeln: es müssen 100 Tage sein, ohne Unterbrechung. Der Abbruch ist nun bereits einige Wochen her. Ich bin längst gesund, trainiere wieder und habe mich von Enttäuschung und Ernüchterung über die Zurücksetzung auf Null erholt. Nun nehme ich gleichsam Anlauf für den nächsten Versuch. Auf Seite 61 in meinem „Hundert-Tage-Buch“ folgt als nächstes erneut Seite 1.
Es sieht ganz so aus – 100 Tage werden wohl nicht reichen…