Manchmal ist es ganz aufschlussreich, ein Fremder zu sein. So entgehen dem typischen japanischen Zugreisenden Dinge, welche der Europäer staunend betrachtet. Ich meine die 7 Minuten, welche zwischen dem Einfahren eines Shinkansen Bullet Train in den Hauptbahnhof von Tokio und seiner erneuten Losfahrt liegen. So lange halten diese Raketen auf Rädern sonst nie an, aber hier in Tokio endet der Zug aus Osaka. Knapp 1000 Passagiere steigen innerhalb weniger Sekunden aus, dann betritt eine disziplinierte Armee älterer Damen mit Staubwedeln und Asics-Turnschuhen den Zug. Der Wartende beobachtet nun, wie die rosa Putzkolonne in wenigen Minuten sämtliche Sitzreihen um 180 Grad schwenkt (In Japan rast man immer in Fahrtrichtung blickend durch’s Land), alles abstaubt und eventuell zurückgebliebene Abfälle mitnimmt (wenn es welche gab, hat diese ein Ausländer zurückgelassen, Japaner würden dies nicht tun).
Zwei Minuten vor der planmäßigen Abfahrt verlassen die fleissigen Bienchen den Shinkansen, an der Tür zu Wagen 7 steht die Chefin und lässt sich von jeder Wagenbesatzung bestätigen, daß alles in Ordnung ist, bevor sie dies per Telefon weitergibt. Erst dann gleiten alle Türen erneut mit einem Zischen auf, und geordnet und zügig besteigen die inzwischen zahlreich in ordentlichen Reihen wartenden Passagiere die weisse Schlange. Der Leser wird sich fragen, weshalb nur der Ausländer die Putzkolonne erlebt hat – das liegt daran, daß ein Japaner niemals wie ich bereits 20 Minuten vor Abfahrt auf dem Bahnsteig herumlungern würde… Der Shinkansen hält an den wenigen Stops unterwegs ohnehin nur knapp zwei Minuten – da reicht es also, auf die Sekunde da zu sein, und gerade seinen Sitz erreicht zu haben, wenn der Zug bereits wieder beschleunigt. Und das nicht zu knapp – als das Ende des etwa 500 Meter langen glänzenden Aals den Bahnhof verlässt, sausen wir schon mit 100km/h gen Yokohama.
Die Geräuschkulisse gleicht der eines Airbus in Reiseflughöhe. Die Beinfreiheit ist der Businessclass im Airbus würdig. Doch nur der Europäer schaut mit einer Mischung aus Bewunderung und Sprachlosigkeit nach draussen. Die Einheimischen widmen sich ausnahmslos ihren Smartphones, lesen Mangas oder essen Sushi. Nach der japanischen Durchsage folgt die englische…“ Welcome on Shinkansen. This is the Nozomi Superexpress, bound for Kyoto…“
Superexpress! Tatsächlich beschleunigt dieser Zug in nur drei Minuten auf 270, das heisst er wird jede Sekunde um 2,6 km/h schneller… Kein Wunder, daß das Ding senkrecht stehende Flügel auf dem Dach hat. Dieses Modell gehört zur Königsklasse der japanischen Superschnellzüge, und er neigt sich derart, daß er sogar mit 270 um Kurven fahren kann.
Doch EIN Anlass bringt sogar die Japaner zum Aufblicken, Smartphones werden an’s Fenster gehalten, Fotos gemacht: Denn da ist er, Fuji-san. Japans höchster Berg steht nur ein paar Kilometer nördlich, mitsamt einem Ring aus niedrig hängenden Wolken. Für einige Minuten bleibt bei 300 Stundenkilometern die Zeit stehen im Raketenfahrzeug.
Gänsehaut im NOZOMI Superexpress.